
Jemand in meinem Umfeld radikalisiert sich – was tun?
On 13.11.2020 by annaGastartikel von Dana Buchzik
Jeder und jedem von uns fällt spontan mindestens eine Person im Familien- oder Freundeskreis ein, deren Worte uns Bauchschmerzen machen. Vielleicht ist es ein Onkel, der am Kaffeetisch gegen Geflüchtete hetzt, vielleicht eine alte Schulfreundin, die Impfungen ablehnt und ihre Kinder auch bei schwerer Krankheit nicht zu Mediziner:innen bringt, sondern ausschließlich auf Globuli vertraut. Vielleicht glaubten wir jahrelang, das sei doch alles nicht so schlimm – bis sich herausgestellt hat, dass unser Onkel oder unsere Schulfreundin neuerdings bei der Querfront mitläuft. Vielleicht haben wir das Diskutieren aufgegeben, weil jeder Widerspruch nur zu Aggression und Zerwürfnissen führt. Sobald wir aber verstehen, wie Radikalisierung funktioniert, können wir fruchtlose Diskussionen und Streit vermeiden – wenn unser Gegenüber es uns wert ist.

Warum Faktenbingo nichts bringt
Wenn wir einem leidenschaftlichen Raucher erklären, dass Rauchen nicht gut für die Gesundheit ist, wird er dann sofort die Zigarette wegwerfen und uns mit Tränen in den Augen für diese wichtige Information danken? Nein. Weder ein Raucher noch eine radikale Person haben bis gerade eben unter einem Stein gelebt und sehnsüchtig darauf gewartet, dass wir ihr gnädig den Weg zu Zeit Online weisen. Radikalisierung erfüllt eine Funktion. Sie bietet also Vorteile.
Ich höre in meiner ehrenamtlichen Beratung immer wieder den Satz: „Ich hab’s ja versucht, aber der oder die will gar keine Hilfe!“ In den Augen vieler Menschen besteht „Hilfe“ jedoch darin, radikale Personen mit Fakten zu bombardieren. Da wird auf Nachrichtenseiten verlinkt und vielleicht noch ein Buchtipp drauf gelegt, und dann soll die radikale Person bitteschön alleine wieder „zu Verstand“ kommen. Diese Strategie ist im besten Fall sinnlos; im schlimmsten Fall fühlt sich unser Gegenüber unter Druck gesetzt und flüchtet sich noch tiefer in sein radikales Paralleluniversum.
Gefährliche Heldengeschichten
Die Forschung zeigt, dass sich Menschen aller Gesellschaftsschichten radikalisieren: Ob arm oder reich, ob wenig gebildet oder hochgebildet, ob einsam oder sozial voll integriert. Die emotionale Funktion von Radikalisierung aber ist immer gleich: Wer sich radikalisiert, will sich das eigene Leben als Heldengeschichte erzählen und zur strahlenden Retterfigur werden, von der die Zukunft der Welt abhängt. Je nach Ideologie kann das durchaus gefährlich werden.
Radikalisierung ist in den meisten Fällen keine einsame Angelegenheit: Es gibt fast immer eine Anbindung an radikale Akteure oder Gruppen. Radikale Gruppen sind wie eine Pyramide aufgebaut. Ganz oben steht ein charismatischer Führer – in den meisten Fällen tatsächlich ein Mann. Eine Stufe darunter kommen die Protegés, die Vertrauten des Anführers, die das Alltagsgeschäft regeln und entsprechend viele Befugnisse haben. Der Rest ist Fußvolk – und wird von den Mächtigen auch so behandelt. Es ist wichtig, herauszufinden, welche Stellung und welche Aufgabe unser Gegenüber innerhalb der radikalen Gruppe hat, denn das sagt eine Menge über Radikalisierungsgrad und Gewaltpotenzial aus. Wir können bzw. wollen uns oft nicht vorstellen, dass Menschen unseres direkten Umfelds eine Bedrohung sein (oder werden) könnten, aber gerade Verschwörungsglauben, der aktuell in Deutschland immer mehr Anhänger:innen findet, zählt zu den gefährlichsten Formen der Radikalisierung: Verschwörungsgläubige bewerten Gewalt häufiger als „legitimes“ Mittel der Meinungsäußerung. Mehrere Attentäter der jüngeren Vergangenheit, darunter die Attentäter von Halle und Hanau, glaubten beziehungsweise glauben an antisemitische Verschwörungserzählungen.
Was kann ich tun?
Eigentlich gibt es nur zwei Wege. Konsequente Abgrenzung ist der leichte, im Kontakt zu bleiben der schwere. Den schweren Weg gehen meist nur Angehörige und enge Freund:innen. Die Extremismusforschung belegt, dass sie die mächtigsten Allianzen im Kampf gegen Radikalisierung sind: Sie wissen nämlich, was der radikalen Person vor ihrer Radikalisierung wichtig war. Was in ihrem Leben Bedeutung hatte, welche persönlichen und beruflichen Ziele sie hatte, was ihr Trost und Mut gespendet hat, wenn sie einsam oder verzweifelt war. Angehörige und Freund:innen können wirksame Gegenangebote machen und eine alternative Heldengeschichte entwerfen, die auf dem gemeinsamen Boden humanistischer Werte stattfinden kann.
Es geht also nicht darum, die radikale Ideologie argumentativ zu entkräften. Es geht nicht einmal darum, sich mit ihr inhaltlich auseinander zu setzen. Es sind viele Fälle dokumentiert, in denen Menschen von einer radikalen Ideologie zur nächsten geschlittert sind. Von einer Sekte in die andere, vom Links- zum Rechtsextremismus oder vom Rechtsextremismus in den Islamismus. Radikale Ideologien sind Vehikel, um sich das eigene Leben als Heldengeschichte erzählen zu können. Sie sind letztlich austauschbar – und deswegen müssen wir uns mit ihnen nicht befassen, um unserem Gegenüber helfen zu können.
Wie zur Hölle soll ich das hinkriegen?
Am wichtigsten ist es, sich Unterstützung zu suchen, Freund:innen oder Angehörige zusammen zu trommeln und gemeinsam zu überlegen, welche Funktion die Radikalisierung für die Person im Alltag erfüllt. Geht es vor allem um soziale Zugehörigkeit? Oder um den Wunsch, eine sinnvolle Arbeit zu leisten, gebraucht zu werden? Geht es darum, sich bedeutsam zu fühlen, vielleicht sogar ewigen Ruhm zu erlangen? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, lassen sich konkrete Angebote entwickeln, die der Person dabei helfen, ihr Leben auch ohne Radikalisierung wieder als sinnvoll zu erfahren. Wenn es an Ideen fehlt oder sich zu wenige Menschen unterstützend einbringen möchten, ist professionelle Beratung hilfreich. Sie ist bundesweit und kostenlos möglich; eine Übersicht findet sich zum Beispiel hier.
Achtung: Äußert die radikale Person Gewaltfantasien, sollte sofort die Beratungsstelle des BAMF oder die Polizei kontaktiert werden.

Dana schreibt gerade an einem Buch über Radikalisierung. Mehr von ihr findest du auf Instagram oder auf ihrer Webseite.
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