
Wie höre ich mit dem Schreien auf? (Teil 2)
On 26.05.2020 by annaIn diesem Teil gehe ich auf das Buch „Mama, nicht schreien!“ ein und erkläre den ganzheitlichen Ansatz, der hilft, die Wut besser zu akzeptieren und sie zu spüren, um danach liebevoll mit unserem Kind umgehen zu können.
Im letzten „Schrei-Artikel“ bin ich auf zwei Ansätze eingegangen, die eher verhaltenstherapeutisch sind. Auch wenn letztendlich immer klar ist, dass das Schreien nur ein Symptom ist, war der Fokus doch darauf, sich davon abzuhalten und etwas anderes zu tun.
Jeannine Min und Sandra Teml-Jetter verfolgen in „Mama, nicht schreien!“ einen anderen Ansatz. Sie hatten sehr oft mit Eltern zu tun, die genau wussten, dass sie ja „nur“ atmen und bis 10 zählen müssten. Und die aber genau das nicht schafften und sich deswegen fühlten als hätten sie versagt. Immer und immer wieder. Sie verfolgen einen Ansatz, der tiefer geht und ganzheitlicher ist. Die Frage sollte nicht nur in Akutsituationen sein: „Was kann ich jetzt tun?“ – sondern immer: „Was kann ich hier und jetzt tun, um öfter liebevoll zugewandt zu bleiben?“. Das „zugewandt“ ist hier auch ein wichtiger Punkt. Wir wollen zugewandt sein und uns verbunden fühlen, aber das geht nicht, wenn wir uns selbst nicht spüren (und das wurde vielen von uns systematisch aberzogen).
Die Wut ist nicht das Problem. Durch die Wut blind zu werden ist eines, aber die Wut gar nicht mehr zu spüren ebenfalls. Und genau das passiert bei manchen Menschen, die einfach nur bis 10 zählen: Sie schlucken die Wut herunter, sie verlieren die Verbindung zu ihrem Körper. Das Ziel ist nicht, nie mehr wütend zu sein, sondern langfristig so entspannt zu sein, dass wir die Wut wahrnehmen und erleben können, sie sich aber nicht destruktiv äußert. Die Autorinnen sprechen davon, dass wir uns einen persönlichen Ressourcenkoffer zusammenstellen können, um dann auch bei Stress und Wut liebevoll bleiben zu können. Aber, wie sie so schön schreiben: Der Ausweg führt nach innen.
Um wirklich gut mit unseren starken Gefühlen leben zu können, brauchen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Dazu gehört, dass wir die Wut verstehen (Wann handeln wir nicht mehr bewusst? Was soll sich durch die Wut zeigen?), aber eben auch, dass wir unsere Umgebung mit einbeziehen (Was stresst uns? Was raubt uns Energie?) und auch die Art, wie wir grundsätzlich mit dem Kind kommunizieren, betrachten (Äußern wir Bitten, auf die wir aber kein Nein akzeptieren wollen? Übernehmen wir die Führung, sind wir selbst sicher und klar genug?).
Teil 1: Die Wut erkennen und verstehen
Kinder bringen uns an unsere Grenzen. Aber wo genau liegen unsere Grenzen? Was genau macht uns denn so wütend? Und wann?
- Kenne deine Trigger. Wann genau wirst du wütend? Beobachte den Alltag. Wirst du wütend, wenn dein Kind bummelt? Wenn es dich haut? Wenn es nicht schlafen will? Wenn es dem Geschwisterkind weh tut? Wenn alle Kinder gleichzeitig etwas wollen?
- Frage dich: Was genau erwartest oder befürchtest du in der Situation? Denn wenn wir genauer dahinter gucken, sehen wir oft, dass wir nur deswegen so wütend werden, weil unsere eigenen Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind, weil wir Hunger haben oder müde sind oder unser Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt ist.
- Frage dich: Würdest du auch so wütend werden, wenn das nicht dein Kind, sondern dein*e Partner*in, deine Mutter wäre? Wenn deine Nachbarin nur in dem Essen stochert, das du mühevoll zubereitet hast?
Wir machen unsere eigenen Befindlichkeiten oft davon abhängig, wie flüssig die Interaktion mit unserem Kind läuft (und ja, ich kenne das auch!). Wir fangen an zu denken: „Das Kind müsste doch jetzt einfach nur mal die verdammten Schuhe anziehen!“. Aber wenn sich die Kinder ändern müssen, damit es uns gut geht, begeben wir uns in eine emotionale Abhängigkeit. Unsere Kinder sind aber nicht dafür verantwortlich, dass es uns gut geht – das sind wir selbst. Und die Wut ist ein Zeichen dafür, dass es uns eben nicht gut geht.
Und deswegen ist die erste Frage: Was ist jetzt notwendig? Und ich finde es sehr schön, wie die Autorinnen da das Wort „notwendig“ wörtlich nehmen: Was wendet jetzt die Not? Welche Lösung brauche ich jetzt, welche Hilfe kann ich in Anspruch nehmen?
Hilfreiche Mantren, um ruhig zu bleiben, können sein:
- Es ist nicht an dir, dein Kind immer glücklich zu machen!
- Dein Kind tut nichts gegen dich, sondern alles für sich!
- Es ist nur jetzt!
- Mein Kind kann gerade nicht anders!
Teil 2: Akzeptanz der Wut und Übernahme der Verantwortung
Jesper Juul schreibt in seinen Texten oft von kindlicher Kooperation. Was er damit meint, ist dass Kinder auf uns und unsere Lebenssituation reagieren und sich anpassen. Entweder kopieren sie unser Verhalten oder sie verkehren es ins Gegenteil. Wie sich Kinder verhalten ist deswegen immer ein Spiegel unserer selbst. Wenn das Kind „einfach nicht hören will“, obwohl wir doch so freundlich bitten – sind wir uns denn selbst sicher darin, was wir wollen?
Auf eine Bitte kann man immer auch mit Nein antworten. Wenn wir kein Nein hören wollen, müssten wir Gehorsam fordern. Wollen wir das? Und wenn nicht – wie schaffen wir es, dass unser Kind aus freien Stücken folgen kann? Wie würden wir reagieren, wenn wir eine Freundin das selbe bitten würden?
Ganz wichtig, schreiben Jeannine und Sandra: „Wir müssen das Verhalten der Kinder nicht erdulden, sondern nur angemessen darauf reagieren.“ Einfach zu ertragen, dass Kinder uns hauen oder dass sie etwas zerstören, ist kein Begleiten. Wir müssen das nicht zulassen, sondern dürfen uns schützen, einen Schritt zurück gehen und für die Sicherheit des Kindes und unsere eigene sorgen. Kinder wollen uns erleben. Uns ganz echt. Und wenn sie das Gefühl haben, dass wir uns nur hinter einer Wand von pädagogischer Korrektheit verstecken oder dass wir unsere Gefühle zurückhalten, werden sie sich in einer Weise verhalten, die es uns ermöglichen soll, all die heruntergeschluckten Gefühle zu entladen – bloß dass wir uns dann ja am Ende wieder alle schlecht fühlen würden. Es geht also darum, ins Spüren zu kommen, die Wut anzunehmen und zu lernen, damit umzugehen. Unsere Kinder dürfen alle Gefühle spüren – und wir auch.
Gerade in einer akuten Stresssituation haben wir oft das Bedürfnis, die Situation zu lösen. Die perfekte Antwort zu finden. Aber unsere Kinder zu begleiten heißt nicht, dass wir ihnen ihre Gefühle abnehmen oder sie kleinreden, sondern dass wir einfach da sind, um zuzuhören und zu sein. Mehr nicht. Wenn Probleme häufiger auftreten, bedeutet das oft, dass die Situation selbst nicht das Problem war, sondern es tiefer liegt. Wenn wir versuchen, unser Kind „abzustellen“, dann lösen wir damit kein Problem, übertragen ihm aber die Verantwortung für unser Befinden. „Mir geht es nicht gut, wenn du so bist.“ oder eben „Mir geht es nur gut, wenn du fröhlich bist.“. Diese Verantwortung sollte kein Kind tragen müssen, denn wir sind die Erwachsenen.
Wir müssen das aber nicht alleine schaffen, das betonen Jeannine und Sandra immer wieder.
Teil 3: Beruhigungsstrategien
In ihrem Buch „My stroke of insight“ schreibt Jill Bolte Tylor darüber, dass Emotionen ungefähr 90 Sekunden lang im Körper anhalten, also der erste Schwall der Gefühle (das hat meines Wissens nach auch eine biologische Basis). Wenn wir diesen Schwall abwarten können, sehen wir gleich viel klarer. In diesen 90 Sekunden sind wir nicht in der Lage, uns auch noch um das eigene Kind zu kümmern, sondern wir selbst haben Priorität. Ist die erste Gefühlswallung verdaut, der Trigger verarbeitet, können wir weitermachen. Während dieser 90 Sekunden die Wut wirklich zu spüren, ohne sie wegzuwischen, in die Wut zu atmen, das erfordert sehr viel Übung und ist ein langer und harter Weg (definitiv noch nichts, was ich geschafft habe übrigens).
Kleine Tipps für den Weg: Erst mal etwas machen, das ein kleines Stückchen besser ist als die Reaktion beim letzten Mal. Auf die Tischplatte schlagen, das Sofakissen drücken, die Wand anschreien, einen Schritt zurück gehen. Noch einmal: Die Wut ist in Ordnung! Sie hilft uns – wenn wir sie genau jetzt nutzen können, um nachzuspüren, wo der Schmerz vergraben ist. Denn es ist nicht das Kind, das uns wütend macht, die Trigger kommen meist aus unserer eigenen Kindheit.
Mit etwas Übung können wir den Notfallplan C.I.A. anwenden:
- C wie Cut: Stopp! Wie bei einem Film, erst mal alles entspannen und zurück zu sich selbst finden. Aus der Rolle fallen und ins Spüren kommen.
- I wie Imagine: Sehen, wie die Situation wirklich aussieht. In Kontakt mit Körper gehen, Aggression gedanklich ausüben, auch die „verbotenen“ Gedanken denken und dann dafür Alternativen finden
- A wie Act: Jetzt kannst du so handeln, wie es dir entspricht
Vor allem der scharfe „cut“ ist etwas, das wir immer präsent haben können, um es einfach zu üben. Solche Techniken brauchen ihre Zeit, bis sie sich eingebürgert haben. Die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, basiert auf vielen guten Erfahrungen der Co-Regulation, schreiben Jeannine und Sandra. Wer oft allein gelassen wurde mit der Wut, will als Erwachsene*r auch meistens allein sein – gar nicht so leicht, wenn man Kinder hat.
Tipps, um aus dem negativen Gefühlszustand raus zu kommen:
- Bewegung, körperliche Anstrengung
- Achtsamkeit für die Umgebung, alle Sinne aktivieren
- Lächeln – dann fühlt man sich ein bisschen wieder gut (das basiert auf einer bestimmten Ansicht über Emotionen nach der die Mimik unser Gefühl hervorrufen kann, wenn auch etwas schwächer als wenn die Emotion zuerst da ist und sich der Gesichtsausdruck entsprechend äußert)
- Wassertrinken: dabei wird der Parasympathikus (Entspannung) aktiviert
- Musik hören
- In Zweisamkeit runterkommen: mit jemandem reden, jemand anderen spüren, Ärger wegumarmen
- Atemübungen
- BodyScan
Teil 4: Mit Kindern reden
Oft werden wir wütend, weil die Kinder „einfach nicht hören“. Das liegt daran, dass wir uns nicht gesehen, nicht wertgeschätzt fühlen (und wahrscheinlich früher als Kinder auch oft nicht gehört wurden – umso wichtiger, das mit den eigenen Kindern anders zu machen).
Wenn wir mit Kindern so reden wollen, dass sie uns auch zuhören wollen, sind zwei Punkte essentiell: Augenhöhe und Ich-Aussagen. Wenn wir nur quer durch die Wohnung brüllen, erfüllt uns wahrscheinlich niemand so wirklich gern unsere Forderungen. Und Ich-Aussagen bringen die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu einem selbst. Kein „Du machst mich so sauer!“, dafür ein „Ich bin so sauer!“.
So eine richtige Antwort darauf, wie man denn jetzt am besten reagiert, gibt es leider nicht. Aber wir können uns die Frage stellen: Wie wollen wir denn gern reagieren? Und dann können wir das ausprobieren – und beim nächsten Mal ggf. anpassen. Die Gelegenheit wird sich ergeben..
Kinder wollen – wie wir ja auch – gesehen und gehört werden. Wenn wir Nein sagen müssen, was vorkommt und absolut okay ist, können wir uns überlegen, wozu wird denn stattdessen Ja sagen könnten (und dann ist es wichtig, das Versprechen zu halten!). Aber: Ein Ja zum Kind sollte kein Ja zu einem selbst bedeuten (und das ist die tägliche Herausforderung des Elternseins.).
Teil 5: Vorbereitung und Strategien
In unseren Entscheidungen leitet uns oft die Angst. Wir haben Angst davor, dass das Kind sich unterkühlt, dass es niemals höflich sein wird anderen gegenüber, dass es nicht genug Nährstoffe bekommt. Angst ist aber kein guter Ratgeber. Jesper Juul sagt so schön: „Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist.“ Konfrontationen, wenn wir unter Angst (oder Stress) stehen, sind nicht förderlich. Aber, wie gesagt, wir müssen die Angst nicht unterdrücken, sondern dürfen sie eine Weile lang erst einmal spüren – und dann geht es weiter.
Wie aber schmieden wir denn das Eisen, wenn es kalt ist? Zum Beispiel, indem wir eine Stresssituation in Gedanken durchspielen. Wir stellen uns die Situation vor und fragen:
- Was passiert in mir?
- Was spüre ich?
- Wo spüre ich es?
- Erhöht sich der Herzschlag, verflacht sich die Atmung, ziehen sich die Muskeln zusammen, spanne ich den Kiefer an, ziehe ich den Bauch ein und die Schultern hoch, runzele ich die Stirn und beiße die Zähne zusammen?
Da ist diese Wut, diese Energie, und wir müssen sie nicht wegschieben. Es kommt jetzt aber darauf an, was wir mit der Energie machen. Ein, zwei Minuten einfach vor Wut zittern, „die Welle surfen“, nennen das Jeannine und Sandra, vielleicht noch drei Tage lang den Freundinnen von der Situation erzählen – damit hätten wir das Gefühl erlebt, aber niemandem damit geschadet.
Der Punkt: Wenn wir grundentspannt sind, können wir meist einfach so ruhig reagieren. Schwierige Situationen regen uns nicht so sehr auf. Meistens sind wir aber eher grundunentspannt. Und genau das gilt es zu ändern.
Die Autorinnen beschreiben den P.A.S.S.I.O.N.-Prozess von Avi Grinberg, mit dem wir Stresssituationen besser meistern können:
- P wie Pay attention: Wir bleiben ganz genau dort wo wir sind und rennen nicht weg
- A wie Agree: Wir stimmen den Gefühlen, die wir spüren, innerlich komplett und wertungsfrei zu
- S wie Strengthen: Wir verstärken die körperlichen Erfahrungen sogar noch, spannen den Körper bewusst an, ggf. können wir bei etwas mehr Zeit eine progressive Muskelentspannung machen, also alle Muskeln nacheinander anspannen und wieder entspannen
- S wie Stop: Aufhören mit dem Anspannen und loslassen
- I wie Inhale and exhale: Mehrmals tief durchatmen
- O wie Open up: in die Entspannung kommen, evtl. prickelt jetzt erst mal der ganze Körper
- N wie New: Neue Wege finden
Es gibt einen Wohlfühlbereich, dem „window of tolerance„, in dem wir angemessen auf Situationen und Emotionen reagieren können. Der Psychologe Daniel Siegel schreibt, wie eine fehlende Bindung und schlimme Erfahrungen aus diesem Fenster ein kleines Astloch machen können. Um es wieder zu vergrößern, brauchen wir zum einen Ventile, um den Stress zu reduzieren, zum anderen manchmal auch erst mal Fremdregulation, um im window of tolerance zu bleiben. In einer Stresssituation können wir es damit erweitern, dass wir uns ganz gezielt zum Beispiel mit einer Art Meditation ins Innere kehren, uns erden, vielleicht eine kleine Gehmeditation machen.
Das wichtigste: Unser Wohlergehen hat Priorität. Das fällt besonders Müttern schwer zu sehen, aber der alte Spruch, dass man aus einer leeren Kanne keinen Tee schütten kann, stimmt einfach.
Teil 6: Stress reduzieren
Um den Stress im Alltag zu reduzieren, gibt es verschiedene Strategien. Eine ist der „Stressmanhattan“ nach Guy Bodenmann. Dabei malen wir fünf Rechtecke; Säulen, die für die Stressbereiche Familie, Arbeit, Freizeit, Paarbeziehung und Ursprungsfamilie stehen. Jetzt können wir in den Bereichen ausmalen, wie sehr sie uns gerade stressen und dann überlegen: wo kann ich mich zurücknehmen, wo kann ich was verändern, wer kann mich stützen, was kann ich abgeben, wo kann ich gerade nicht entlasten (warum), muss ich das so machen?
Wirkungsvoll und eindrücklich ist auch das Kreissymbol. Wir haben alle unseren Wirkungskreis, den wir uns vorstellen können, wie einen Kreis um uns herum. Wenn jemand ohne Einladung in unseren Kreis tritt, ist das unangenehm. Wenn jemand ständig in den Kreis tritt, belastet das und dann ist es möglich, dass wir bei unserem Kind, wenn es dann später noch mal in den Kreis tappt, überreagieren.
Um wieder in Balance zu kommen, hilft vielleicht das Schema von David Schnarch, die vier Punkte der Balance.
- Stabiles, flexibles Selbst: Bei sich selbst und seinen Werten und Vorstellungen sein, aber offen sein für andere, keine Bestätigung von anderen erwarten
- Stilles, ruhiges Herz: Die eigenen Gefühle annehmen und Verantwortung für sich selbst übernehmen
- Angemessenes Reagieren: auch in schwierigen Situationen ruhig und angemessen reagieren, Themen ansprechen auch wenn es schöner wäre, sie zu vermeiden
- Sinnvolle Beharrlichkeit: unangenehme Gefühle und Situationen aushalten, weitermachen auch bei Frustration
Sind wir so sehr in der Balance, dann können wir auf die Forderungen der Kinder gelassen reagieren, wir können ihre Emotionen spiegeln, müssen davon aber keine schlechte Laune bekommen. Für mich war dieses Modell erst zu abstrakt, aber der folgende Dialog hat mir geholfen, es zu verstehen:
Lilly sieht fern.
Tim: „Lilly, noch diese Folge. Dann bringe ich dich ins Bett!“
Lilly schweigt.
Tim: „Lilly?“
Lilly: „Papa, bitte noch eine!“
Tim: „Nein, Lilly. Ich bleibe mit dir sitzen, bis es aus ist und dann bring ich dich ins Bett.“ (stabiles, flexibles Selbst und sinnvolle Beharrlichkeit)
Lilly: „Blöder Papa!“
Tim: „Ja, und ich bringe dich dann ins Bett.“ (Stiller Geist, ruhiges Herz)
Selim: „Braucht ihr Hilfe?“
Tim: „Bitte nicht!“ (angemessenes Reagieren)
Selim schmunzelt.
Die Serie ist aus.
Tim: „Willst du abdrehen oder soll ich?“
Lilly: „Du! Aber ich will noch eine Geschichte!“
Tim: „Ja, wie immer.“
Lilly: „Ja, wie immer.“
Kinder wollen ziemlich viel und ich glaube, wir sind oft dazu geneigt, zu glauben, wir müssten ihnen alle Wünsche erfüllen oder sie immer glücklich machen. Frust aushalten ist schwer. Aber wenn wir vorher ein klares Nein ausgesprochen haben und uns dann zu einem Ja gedrängt fühlen, gehen wir damit oft nur Konflikten aus dem Weg, die aber eigentlich wichtig für unsere Kinder wären, um uns kennen zu lernen. Wir müssen gar nicht immer viel diskutieren, aber eine innere Klarheit bei gleicher Flexibilität dafür, dass andere Menschen andere Vorstellungen haben als wir, wird viele Situationen entstressen.
Auch das ist nichts, was einfach so wächst, aber wir können immer mal wieder darauf achten.
Teil 7: Die Entelterung
Zur Entelterrung haben Jeannine und Sandra schon ein Video gedreht.
Wir haben jetzt eigene Familien und die Machtspiele oder gewaltvollen Strukturen aus unserer Ursprungsfamilie haben darin keinen Platz. Wir können uns davon lösen (in einem langen, schmerzvollen Prozess), müssen aber nicht gleich den Kontakt abbrechen. In vielen Familien herrschten zwar toxische Strukturen, allerdings haben die Menschen ebenfalls ihr Bestes gegeben und hielten ihre Reaktionen für richtig. Ich persönlich finde es wichtig, sich genau Gedanken darüber zu machen, ob man den eigenen Eltern noch eine Chance geben kann – wichtig ist es aber, innerhalb der kleinen neuen Familie Solidarität zu zeigen. Wir entscheiden uns für die eigene kleine Familie – und halten zum Partner, zur Partnerin, auch wenn die eigenen Eltern vielleicht etwas auszusetzen haben.
Entelterung ist also der Prozess, die alten Dynamiken aus der Ursprungsfamilie zu identifizieren und aufzulösen, weil wir sie in unserer neuen Familie nicht brauchen. Es bedeutet manchmal, sich professionelle Unterstützung zu suchen. Mentale Dialoge helfen dabei, eingefahrene Situationen noch einmal neu zu lösen, aber vor allem brauchen wir einen klaren Entzug von Verhaltensweisen und Automatismen, die wir uns schon angewöhnt haben. Das ist schwierig – ich glaube, Partner*innen können dabei gut helfen, weil sie es definitiv klarer sehen als wir selbst – hilft aber auf dem Weg in die Familie, die wir selbst uns wünschen, statt dass wir nur wiederholen, was wir erlebt haben.
„Mama, nicht schreien!“ ist ein Buch, an dem ich selbst noch viel arbeite (gerade am letzten Teil). Mir gefällt der ganzheitliche Ansatz: Wir können die Situation mit unserem Kind am besten dann lösen, wenn wir uns im „window of tolerance“ befinden, und dafür brauchen wir konsequente Selbstfürsorge. Das muss kein Bad mit Rosenblüten und kein teurer Tee sein, sondern bedeutet vor allem, dass wir daran arbeiten zu verstehen, woher bestimmte Verhaltensmuster kommen, diese auflösen, die ganze Situation im Blick behalten, unsere Bedürfnisse wahrnehmen und unsere Wut zulassen und spüren (also – ganz einfach ;)).
Ich hoffe sehr, dass ihr euch aus diesem Artikel etwas mitnehmen konntet! Im nächsten wird es sich dann eher ums Schimpfen drehen als ums Schreien mit „Erziehen ohne Schimpfen“ von Nicola Schmidt und der „Schimpfdiät“ von Daniela Geig und Linda Syllaba.
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