
Aggressives Verhalten bei Kindern
On 18.10.2019 by annaAggressives Verhalten und Aggressionen. Nach dem Schlaf ist das wahrscheinlich das Thema, das Eltern am meisten beschäftigt, sobald das Kind aus dem Babyalter herausgewachsen ist und plötzlich anfängt, zu hauen, zu kratzen oder zu beißen. Woher kommt das? Warum machen Kinder das? Und wie können wir reagieren?
In diesem Artikel möchte ich aufklären über die Entwicklung unserer Kinder, möchte zeigen, wozu sie fähig sind und wozu nicht, aber ich kann keine absolut allgemeingültigen Antworten auf die Frage geben, warum das eigene Kind vielleicht besonders aggressiv ist. Jedes Kind ist anders, jede Situation ist anders und sollte immer als Gesamtheit betrachtet werden. Ich hoffe aber, euch einige Lösungsansätze mitgeben zu können, die euch hoffentlich weiterhelfen.

Ich möchte mit diesem Artikel außerdem Mut machen, das aggressive Verhalten noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Denn an sich sind Aggressionen weder gut, noch schlecht. Sie sind eine Energie, die uns befähigt, uns für etwas einzusetzen. Sie geben uns Kraft, unsere Grenzen aufzuzeigen und zu beschützen. Sie lassen uns durchhalten, über uns hinaus wachsen und spornen uns zu Höchstleistungen an. Ohne Aggression gäbe es keinen Spitzensport, niemand würde irgendetwas bis zu Ende durchziehen. Wir sprechen oft über Aggression und meinen destruktives, gewalttätiges Verhalten, aber es gibt mehrere Seiten. Und wenn wir es schaffen, unseren Kindern zu zeigen, wie sie ihre Aggressionen konstruktiv einsetzen können, ohne jemand anderem weh zu tun, haben sie damit viel fürs Leben gelernt.
Woher kommt die Angst vor aggressivem Verhalten?
Wenn ein kleines Kind, vielleicht anderthalb Jahre alt, plötzlich anfängt zu hauen, gehen bei vielen Eltern gleich die Alarmglocken los. „Achtung, genau jetzt müssen wir anfangen mit der Erziehung!“ „Wir dürfen das nicht durchgehen lassen, sonst gewöhnt er sich dran!“ „Wir müssen sie jetzt zurechtweisen, damit sie uns später nicht auf der Nase herumtanzt!“ Und es stimmt: Wenn wir einfach daneben sitzen und zuschauen, werden unsere Kinder keinen sozialverträglichen Umgang miteinander lernen. Natürlich können Kinder irgendwann auch Konflikte unter sich lösen – die ganz Kleinen brauchen allerdings dabei noch viel Unterstützung. Früher war es oft so, dass Kinder ab einem gewissen Alter immer mehr in einer gemischtaltrigen Kindergruppe waren. Aber auch da haben sie Konflikte nicht völlig allein lösen müssen, sondern haben es sich von den Großen abgeschaut, unterlagen auch mal den Großen im Kampf oder wurden von den älteren Kindern gemaßregelt, und das auch tatsächlich nicht unbedingt ganz „nach GfK“.
Ganz deutlich gesagt: Wenn man zwei Zweijährige „Konflikte unter sich lösen“ lässt, schlagen sie sich gegenseitig die Köpfe ein. Und letztendlich gewinnt dann immer das stärkere Kind. Kleinen Kindern fehlen wichtige Eigenschaften, die es braucht, um Konflikte friedlich allein zu lösen: Impulskontrolle, Frustrationstoleranz und Empathievermögen. Sie für aggressives Verhalten zu bestrafen, ruft in ihnen nur das Gefühl hervor, falsch zu sein. Es hilft ihnen aber nicht in ihrer Entwicklung. Wir haben vielleicht Angst, dass die Kinder niemals aufhören werden, Streit mit den Fäusten zu klären und wollen deshalb schnell eingreifen – aber wir sollten es auf eine Weise tun, die unseren Kindern hilft, die Konflikte irgendwann wirklich einmal unter sich lösen zu können.
Und wir brauchen auch keine Angst zu haben, dass aus Kindern, die empathisch begleitet werden, kleine Gewaltverbrecher*innen oder Tyrannen werden. Wenn man sich die Menschen einmal anschaut, die für gewalttätiges Verhalten im Gefängnis gelandet sind, dann sind das nicht die aus gutem, liebevollen Elternhaus. Im Gegenteil: Es sind oft diejenigen, die niemals selbst Liebe erfahren haben. Die sich immer allein durchboxen mussten und dann an die falschen Menschen geraten sind. Und wenn wir es genau nehmen, dann sollten wir eigentlich auch sehen, dass unser Rechtssystem so nicht funktioniert, dass das Gefängnis aus den Verbrecher*innen keine besseren Menschen macht, die sich danach immer regelkonform verhalten, sondern die Rückfallraten unheimlich hoch sind, aber dieses Fass möchte ich an dieser Stelle nicht aufmachen.
Jesper Juul schreibt in „Aggression“ darüber: „Aggression ist sehr viel mehr als Wut, Reizbarkeit, Schreien und Brüllen. Ohne Aggression wären wir nicht imstande, uns Ziele zu setzen und sie zu verfolgen. Wir wären nicht fähig, Karriere zu machen, guten Sex zu haben oder unsere Träume zu verwirklichen. Wir könnten nicht Fußball oder Tennis spielen und auch keinen Marathon zuende laufen. Wir wären nicht in der Lage, jemanden zu verführen, unsere Grenzen zu bestimmen oder unsere Kinder zu beschützen. Wir würden keine Klippen ersteigen, nicht gegen Krebs kämpfen oder einen Diktator stürzen. Nur wenn wir unsere Aggression in Form von Gewalt an anderen Menschen auslassen, deren hab und Gut oder öffentliches Eigentum zerstören, wird sie destruktiv.„
Kleine Kinder, die hauen, sind meist Kinder, die frustriert sind und sich nicht anders zu helfen wissen. Aus ihnen werden (im Normalfall) keine Schläger*innen. Und deswegen dürfen wir die erste Angst auch abschütteln und genau auf unser Kind schauen, um zu sehen, was es in diesem Moment von uns braucht.
Wenn Babys beißen
Babys beißen manchmal in die Brustwarze beim Stillen. Das kann vermehrt passieren, wenn sie gerade Zahnen, tut aber gerade dann besonders weh. Ein lautes „Stopp“ verstehen Babys einfach noch nicht und verbinden es auch nicht mit dem Beißen. Wir müssen uns nicht einfach beißen lassen, sollten aber verstehen, dass ein Baby nicht absichtlich beißt! Das hat absolut nichts mit aggressivem Verhalten zu tun. Es beißt eigentlich nur dann, wenn es keinen Hunger mehr hat. Man kann die Brust dann also sanft ablösen, bzw, wenn das Baby sich richtig festbeißt, die Nase etwas in Richtung der Brust drücken kann, sodass kurz weniger Luft hindurch kommt und das Baby dann durch den Mund atmet und dabei die Brustwarze loslässt.
Wenn das Beißen regelmäßig abends beim Einschlafstillen passiert, ist es eventuell an der Zeit, die sanfte Ablösmethode zu probieren, die ich in diesem Artikel beschrieben habe. Beißen Babys immer, sobald sie an die Brust kommen, sollte man zur Sicherheit eine Stillberatung bitten, einmal auf die Anlegetechnik zu schauen, denn hungrige Babys beißen eigentlich nicht in die Brust und es könnte ein Anzeichen für eine Saugverwirrung sein.
Wenn das Baby andere Kinder beißt, hilft es eigentlich nur, immer schneller zu sein. Es wird wahrscheinlich nur eine relativ kurze Phase sein, in der es z.B. beim Zahnen oder wenn es entdeckt, dass jemand lustig quietscht, wenn er oder sie gebissen wird, vermehrt beißt. Manche Babys oder Kleinkinder beißen auch durch ihre überschwänglichen Gefühle, wenn sie sich über jemanden freuen. Das ist nicht schön, aber auch das ist alles andere als aggressives Verhalten und wird, wenn wir die Situation nicht übermäßig aufbauschen, sondern einfach eine Weile lang immer schneller sind und andere Kinder schützen, schon bald wieder verschwinden.
Wenn Kleinkinder beißen, hauen oder kratzen
Kleinkinder sind sehr emotionale Wesen, die noch keine hohe Frustrationstoleranz haben, deren Impulskontrolle noch nicht ausgereift ist und die noch kein Verständnis für die Emotionen anderer Menschen haben. Impulskontrolle ist etwas, das erst langsam um den Schuleintritt herum ausgereift ist, also mit 6-7 Jahren, zum Perspektivwechsel sind Kinder erst mit etwa 4-5 Jahren in der Lage (das kann man mit dem Sally-Anne-Test prüfen) und auch das Moralverständnis, das mit der Empathie stark zusammenhängt, entwickelt sich erst irgendwann um das 6. Lebensjahr herum, auch wenn Kinder mit 2-3 Jahren bereits Ansätze zeigen können.
Das heißt nicht, dass Kleinkinder absolut unempathisch sind. Die „Spiegelneuronen“, die als die biologische Grundlage für Empathie gesehen werden und die zum Beispiel aktiv werden, wenn wir beobachten, wie jemand sich weh tut (kennt ihr dass, wenn sich jemand den Zeh anstößt und wir automatisch das Gesicht mit verziehen?), sind von Geburt an angelegt, funktionieren aber einfach noch nicht so wie bei uns. Es gibt zahlreiche, wirklich herzergreifende Versuche im Labor, bei denen die Versuchsleiter*innen so taten als würden sie an etwas nicht heran kommen oder etwas nicht sehen und bei denen die Kleinkinder ihnen dann sofort halfen. Auch wenn Kleinkinder eine Art Theaterstück mit einem „fiesen“ Dreieck und einem „lieben“ Kreis beobachteten, bevorzugten sie später beim Spielen den Kreis. Grundlagen sind also bereits ab Geburt gelegt, wir sind schließlich auch eine soziale Spezies und Empathie ist wichtig für das Bestehen unserer Gesellschaft. Aber Kinder sind nicht empathisch in der Weise, dass sie ihr Verhalten hinterfragen und abschätzen können, ob es jemandem weh tut, wenn sie ihm ins Auge piksen. Bis Kinder 2-3 Jahre alt sind, werden sie beim Problemlösen nicht die Bedürfnisse anderer beachten können. Die „Theory of mind“, also das Verständnis dafür, dass andere Menschen andere Gefühle haben als wir, entwickelt sich wie gesagt erst um das 4. Lebensjahr herum. Und erst mit 5-7 Jahren können sich Kinder innerlich emotional darauf vorbereiten, jemanden anzusprechen und innerlich überlegen, wie die Person wohl reagieren wird und wie man sie am besten anspricht. Das sind kognitive Entwicklungen, die auf biologischen Funktionen basieren, die einfach vorher noch nicht fertiggestellt sind. Und, wie man so schön sagt, das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Auch das bedeutet aber nicht, dass wir einfach zusehen sollen, wie unsere Kinder anderen weh tun oder dass wir uns schlagen lassen sollen. Aber wenn wir davon ausgehen, dass unsere Kinder von sich aus Empathie entwickeln werden, statt zu erwarten, dass sich Kleinkinder sozialen Normen beugen, dann haben wir eine ganz andere Grundhaltung und können unser Kind besser in seiner Entwicklung unterstützen.
Viele von euch kennen vielleicht den berühmten Marshmallow-Test von einer Forscher*innengruppe um Walter Mischel, bei dem Kinder unterschiedlichen Alters in einen Raum gesetzt und ihnen einen Marshmallow gegeben wurde. Sie sollten kurz warten, bis der*die Versuchsleiter*in wiederkam, und wenn sie es schaffen würden zu warten, sollten sie einen weiteren Marshmallow geben. Viele Jahre später wurden die Kinder unterschiedlichen Tests unterzogen und es stellte sich heraus, dass diejenigen, die lange warten konnten, später erfolgreicher im Job waren und auch sonst den Kindern, die den Marshmallow gegessen hatten oder nur kurz warten konnten, in vielen Bereichen überlegen waren. Dieses Experiment wird sehr oft erwähnt. Allerdings ist das nur ein Teil der Geschichte.
Das Experiment wurde beispielsweise wiederholt – nur dass sie die Kinder vorher in zwei Gruppen einteilte. In beiden Gruppen wurde den Kindern erzählt, dass sie ein Bild ausmalen sollten. Stifte wurden ausgeteilt. Allerdings waren die Stifte schon sehr kurz, schmutzig, abgebrochen, nicht angespitzt. Die Versuchsleiterin sagte nun, sie würde noch eben die brandneuen Stifte holen, die kürzlich geliefert worden waren. In der einen Gruppe kam sie nach kurzer Zeit wieder und verteilte die neuen Stifte. Zur anderen kam sie zurück und sagte bedauernd, dass die Stifte leider doch noch nicht da waren. Um es kurz zu fassen: Statistisch gesehen konnten die Kinder der ersten Gruppe doppelt so lange warten wie der Durchschnitt der Kinder ohne vorangegangenes Experiment. Die Kinder der „enttäuschten“ Gruppe konnten halb so lange warten wie der Durchschnitt der Kinder aus dem ursprünglichen Marshmallow-Experiment.
Und genau hier sehen wir etwas ganz Wichtiges: Wie ein Kind seine Impulse kontrollieren kann, hat auch sehr viel mit seinem Umfeld zu tun. Ist das Umfeld generell verlässlich? Erfährt das Kind zum Beispiel, dass es seinen Ball wiederbekommen wird, wenn ein fremdes Kind ihn weggenommen hat? Dann wird es vielleicht auch (auf längere Sicht) aufhören, sofort zuzuhauen. Wird es in seinen Erwartungen oft enttäuscht und in seinen Bedürfnissen weniger gesehen, entwickelt es vielleicht eher die innere Haltung, dass es sich doch schnell selbst durchsetzen müsse. Und genau dann geraten Kinder oft auch in einen Teufelskreis. Denn die Kinder, die sich aggressiver verhalten, werden oft für dieses Verhalten bestraft. Dadurch nehmen sie das Selbstbild des „bösen Kindes“ an – und handeln dann auf Dauer meistens auch danach.
Wir können unsere Kinder also auch darin unterstützen, eine bessere Impulskontrolle zu bekommen, indem wir selbst empathisch und verlässlich sind. Dr. Harvey Karp empfiehlt in „Das glücklichste Kleinkind der Welt“ zum Beispiel, mit dem Kind kurze Wartespiele zu spielen. Ich habe den Eindruck, dass sich viele dieser Wartespiele im Alltag (besonders mit mehreren Kindern) ohnehin ergeben: Das Essen ist fertig, aber es ist noch zu heiß – also nehme ich den Teller noch einmal kurz weg, um zu pusten und danach kann das Kind essen. Oder ich biete dem Kind einen Apfel an, bitte es dann aber, noch kurz zu warten und wasche und schneide ihn zuerst. Dr. Karp empfiehlt, Kinder von 1-2 Jahren höchstens eine Minute warten zu lassen, wir sollen unser Kind also nicht ständig hinhalten.
Das Kind lernt dadurch: Wenn ich kurz abwarte, verbrenne ich mir nicht die Finger. Wenn ich kurz abwarte, bekomme ich einen leckeren Apfel. Warten lohnt sich, weil ich danach bekomme, was ich erwartet habe.
Für mich ist das auch die Antwort darauf, ob meine Kinder ihre Spielsachen teilen müssen oder nicht. Denn auch hier geht es prinzipiell um das Vertrauen, das Spielzeug hinterher wieder zu bekommen. In der ersten Phase versichere ich meinem Kind: Das ist dein Spielzeug, niemand darf es dir wegnehmen und wenn du nicht willst, darf auch niemand damit spielen. Wer es einfach wegnimmt, muss es wiedergeben. Das gibt meinem Kind (das ja mit etwa zwei Jahren überhaupt erst ein Verständnis vom Selbst und von Besitz bekommt) die Sicherheit, dass es selbst über sein Spielzeug bestimmen darf. In der zweiten Phase ermuntere ich es dann, das Spielzeug kurz abzugeben und betone, dass es es wieder zurückbekommen wird, wenn es wieder selbst damit spielen will/das andere Kind damit fertig gespielt hat/wir nach Hause gehen.
Wie reagiere ich denn nun aber richtig, wenn mein Kind dem anderen die Schippe über den Kopf zieht, weil es ihm den Bagger weggenommen hat? Wir haben im Hinterkopf: Das Kind kann sich noch nicht einfühlen, es will dem anderen nicht weh tun, weiß aber nicht wohin mit seiner Frustration. Es reagiert aus einem Impuls heraus, den es noch nicht steuern kann. Wenn ich es dafür isoliere (was die selben Schmerzen hervorruft wie wenn dem Kind körperlicher Schmerz zugefügt wird), beschimpfe oder bestrafe, lernt es daraus zwar durchaus, dass beim Hauen eine Grenze erreicht ist. Passiert das sehr häufig, wird das Kind ein negatives Selbstbild entwickeln: Ich bin der oder die Böse hier. Und das kann zu dem vorhin schon genannten Teufelskreis führen. Es erfährt aber nichts darüber, wie es die Situation besser hätte lösen können. Ab und zu hauen oder beißen ist völlig normales Verhalten und auch wenn es nicht schön ist, wird es passieren, dass unser Kind anderen weh tut oder ihm weh getan wird. Dadurch lernen Kinder eben auch, dass hauen oder beißen weh tun. Wir können unsere Kinder dann dabei unterstützen, akzeptable Lösungsstrategien zu entwickeln. Zuerst wird sich um den oder die Verletzte*n gekümmert: Wir fragen nach, ob es weh tut, pusten vielleicht, bitten das Kind, ein Kühlpack zu holen. Zu einer wirklich ernst gemeinten Entschuldigung ist ein Kind erst in der Lage, wenn es ein gewisses Moralverständnis hat, also etwa um den Schuleintritt herum. Deswegen halte ich persönlich von erzwungenen Entschuldigungen bei Kleinkindern gar nichts. Das Kind lernt damit nur Floskeln auswendig, die aber hohl bleiben ohne echtes Verständnis. ICH als Erwachsene entschuldige mich aber. Und ich versuche, die Situation zu klären, indem ich beiden Seiten zuhöre, paraphrasiere, was die Kinder wollten und sie dazu ermuntere, andere Lösungen zu finden, bzw. je nach Alter einfach andere Lösungen vorschlage. Etwa mit 2-4 Jahren können Kinder es langsam lernen, die anfängliche Wut umzuleiten, z.B. mit der „Stopp-Hand“ (dazu haben wir sehr gern „Jakob sagt Stopp“ gelesen) oder indem sie mit dem Fuß aufstampfen und schreien, dass sie sauer sind. Probleme verbal zu lösen ist eine hohe Kunst, zu der auch manche Erwachsene nicht in der Lage sind! Wir können von unseren Zweijährigen nicht erwarten, dass sie höflich sagen: „Du, entschuldige bitte, aber du hast mir vorhin schon den Eimer weggenommen und jetzt auch noch die Schaufel, wärst du doch bitte so freundlich, mir zumindest eins davon wieder zu geben?“. Mir hat es übrigens sehr geholfen, mir direkt in oder nach der Situation im Kopf noch mal so einen übertrieben höflichen Satz auszudenken, der mir dann wieder klar machte, wie lächerlich diese Erwartung ist.
Was aber nun, wenn das Kind häufiger anderen Kindern weh tut? Wenn es vielleicht auch auf andere Kinder zurennt und sie beißt? Leider sind das oft missverstandene Kommunikationsversuche. Im vollen Überschwang der Gefühle rennt das Kind auf andere zu und will eigentlich nur fragen: „Willst du mit mir spielen?“ Es weiß aber nicht, wohin mit der Freude und beißt – aus Zuneigung.
Wir hatten diese Situation sehr lange mit unserer ältesten Tochter. Kaum waren wir auf dem Spielplatz, rannte sie auf das völlig fremde Kind zu und kratzte es durchs Gesicht. Für uns Eltern war das furchtbar, für die anderen Eltern natürlich auch, für die fremden Kinder war es nicht schön und unsere Tochter litt auch, weil niemand ihren Annäherungsversuch verstand. Um ehrlich zu sein, habe ich am Anfang falsch darauf reagiert, obwohl ich bemüht war, das richtige zu tun. Ich ging zu unserer Tochter, sagte „Halt, Stopp, nicht hauen!“ und versuchte, sie auf die Gefühle des anderen Kindes aufmerksam zu machen: „Schau, das Kind weint! Hauen tut weh!“. Während es wichtig ist, mit Kleinkindern Emotionen zu üben (beim Vorlesen beispielsweise darauf zu achten oder auch wenn man mal eine Situation beobachtet), so reicht es eben nicht aus, um ein Kleinkind davon abzuhalten, einem anderen weh zu tun. Wie gesagt, Empathie entwickelt sich erst später und wir können die Entwicklung unterstützen, aber nicht beschleunigen. Außerdem verstehen Kinder mindestens unter zwei Jahren das „nicht“ nicht. Ihr Gehirn blendet es einfach als „unwichtiges Bindewort“ aus. Sie verstand also nur „Hauen!“ und war wahrscheinlich dementsprechend auch verwirrt.
Um ihr zu helfen, mussten wir erst einmal aus diesem Kreislauf wieder heraus kommen. Sie musste lernen, Kinder auf eine bessere Art zum Spielen aufzufordern. Und dazu mussten wir Eltern eine Weile lang ganz, ganz eng an ihr sein. Wenn sie sich aufmachte, auf ein anderes Kind zuzugehen, waren wir also sofort an ihrer Seite, stellten uns notfalls dazwischen und sagten etwas wie: „Möchtest du mit dem Kind spielen? Komm, wir fragen mal!“. Wir zeigten ihr, wie man ein anderes Kind freundlich zum Spielen auffordert, ohne zu hauen und zu beißen. Dabei haben wir erst mal für sie gesprochen, bis sie dazu selbst in der Lage war. Mit etwa 3,5 Jahren änderte sich ihr Verhalten übrigens von ganz allein grundlegend. Plötzlich war sie eins der sozialsten Kinder, das wir kannten (zumindest vom Umgang mit ihrer Schwester abgesehen).
Sehr viel später stellte sich übrigens auch noch heraus, dass sie eine (leichte) Wahrnehmungsstörung hat. Sie konnte also überhaupt nicht verstehen, wieso die anderen Kinder immer anfingen zu weinen, wenn sie sie bloß anfasste.
Gerade also auch bei den anderthalbjährigen, die manchmal vermehrt anfangen, andere Kinder zu hauen oder zu beißen, sollten wir als Eltern (oder Erzieher*innen) das Kind am besten eine Weile lang sehr intensiv begleiten und zeigen, wie man Kontakt aufnimmt. Das ist anstrengend und gerade in einer Einrichtung mit mehreren Kindern nicht immer so gut machbar, wird aber die Situation auf Dauer für alle sehr entspannen. Reagiert das Kind vor allem bei Frust aggressiv, muss es auch da eine Weile lang intensiver begleitet werden und alternative Strategien wie die Stopp-Hand lernen.
Bestrafung des Verhaltens hilft vielleicht kurzfristig, aber eben nicht langfristig. Und letztendlich wollen wir natürlich, dass unsere Kinder aufhören, anderen weh zu tun – und dass sie verstehen, warum sie das nicht tun sollen. Gerald Hüther schreibt dazu: „Der eine Mensch schlägt und tritt seine Mitbürger nicht, weil er weiß, dass er dafür vor Gericht oder ins Gefängnis kommt; der andere Mensch schlägt und tritt seine Mitmenschen nicht, weil er sich in ihren Schmerz einfühlen kann und sein Mitgefühl seine aggressiven Impulse übertrumpft. Von außen sehen beide Menschen gleich aus und es kann sein, dass beide für immer ein redliches, gewaltfreies Leben führen. Sollte aber die Kontrollinstanz (auch nur vermeintlich) wegfallen, kann es sein, dass der zuerst beschriebene Mensch eben doch zuschlägt und tritt.„
Kinder zwischen 3-6 Jahren
Aggressives Verhalten unter sechs Jahren ist also völlig normal und im Rahmen und sollte begleitet werden, damit Kinder lernen, die Situationen besser zu lösen. Kein Kind haut aus purer Böswilligkeit – aber die Drei- bis Sechsjährigen verstehen durchaus schon, dass das weh tut. Warum hauen sie trotzdem? In besonders herausfordernden Situationen wird die Übersprungshandlung Hauen/Beißen/Kratzen oft noch Lösung Nr. 1 sein. Wenn ein Kind sich aggressiv verhält, dann steckt meistens etwas dahinter. Kinder zeigen ihr Unwohlsein entweder mit Rückzug oder mit Aggression. Während Rückzug gesellschaftlich auch noch hervorgehoben wird als besonders gute Erziehung, so ist doch der Stresslevel des Kindes immer noch hoch. Gefühle in sich zu vergraben, kann auf Dauer krank machen, das gilt für Kinder wie auch für Erwachsene. Und gerade wenn Kinder in ihrem elterlichen Umfeld ihre Emotionen nicht offen zeigen dürfen, werden sie sich andere Kanäle dafür suchen. Die Aggressionen richten sich dann entweder gegen sie selbst oder – sobald sie sich unbeobachtet fühlen – gegenüber anderen, zum Beispiel dem jüngeren Geschwisterkind.
Kinder können aggressiv reagieren, wenn sich ihr innerer Frust so sehr aufgestaut hat, dass sie ihn nicht mehr zurückhalten können oder wenn sie das Gefühl haben, nicht mehr wertvoll für andere zu sein. Auch wenn wir manchmal den Eindruck haben, dass die Kinder kaum im Haushalt mithelfen, ihre Jacken ständig auf den Flur werfen und ihre Brotdosen erst dann abgeben, wenn sich ein freundlicher kleiner Mitbewohner darin gebildet hat. Kinder sehnen sich nach dem Gefühl, gebraucht zu werden, ihren Platz zu haben, wertvoll zu sein. Besonders wenn ein neues Geschwisterkind in die Familie kommt, verlieren sie dieses Gefühl manchmal. Gar nicht unbedingt, weil wir das so beabsichtigt haben und das Baby wirklich bevorzugen, aber unser älteres Kind muss seine neue Rolle erst einmal wieder finden.
Jesper Juul beschreibt in „Aggression“ noch andere Situationen, in denen sich Kinder nicht wertvoll fühlen: „Wenn Eltern einen Konflikt haben und miteinander streiten, wenn ein Elternteil zu viel Alkohol zu sich nimmt, wenn Kinder geschlagen oder sexuell missbraucht werden, […], wenn sich Eltern scheiden lassen, wenn ein Elternteil oder eins von den Geschwistern einen Selbstmordversuch macht, wenn ein Brief aus der Schule die Eltern verärgert, wenn das Bedürfnis des Kindes, zu kooperieren und sich anzupassen, nicht anerkannt und durch striktes, manipulatives „Großziehen“ ersetzt wird, wenn Eltern primär auf die Zukunft eines Kindes fokussiert sind und nicht auf sein momentanes Befinden, wenn Mutter oder Vater eine Affäre haben, wenn das Kind dauernd korrigiert und kritisiert wird, wenn es der Mutter auf die Nerven geht und den Vater ärgerlich stimmt […]. Die Liste ist unendlich lang“.
In diesen Situationen versuchen Kinder, ihre starken Gefühle zu bewältigen und wissen oft keinen anderen Ausweg mehr, als anderen weh zu tun. Gerade wenn die „anderen“ das kleine Geschwisterchen ist, sind wir Eltern sehr zerrissen zwischen Liebe und Wut. Wut auf das große Kind, das dem kleinen so weh tut. Liebe für das große Kind und ein schlechtes Gewissen, es so zerrissen zu sehen. Wut auf das kleine Kind, das uns davon abhält, weiterhin so viel schöne Zeit zusammen zu verbringen mit dem großen Kind. Liebe für das kleine Kind und Verzweiflung, weil ihm schon in jungen Jahren körperliche Schmerzen zugefügt werden.
Verständnis für unser Kind ist absolut essentiell. Aggression hat immer Hintergründe, und wenn wir nur die Symptome behandeln, helfen wir unserem Kind nicht weiter. Wir müssen als mehr als nur die Situation betrachten, in der das Kind sich aggressiv verhält, sondern immer auch alles, was mit drin hängt. Aber genau hier finde ich es unheimlich wichtig, die Aggression eben nicht nur als „das Böse“ zu sehen. Da steckt eine unheimliche Kraft in unseren Kindern! Es ist so wertvoll, dass sie uns zeigen, wie sie leiden! Wir lernen ihre Grenzen kennen – und können ihnen helfen, wenn wir uns darauf einlassen.
Aggressive Kinder – besonders Kleinkinder – schon als Schläger*innen zu bezeichnen, finde ich dagegen eine wirklich bedenkliche Tendenz. Aggressionen sind völlig normal. Sie sind wichtig. Und sie können auch sehr produktiv sein. Das heißt nicht, dass wir zulassen müssen, dass die Kinder deswegen unsere Grenzen überschreiten. Die dürfen wir genauso klar, aber respektvoll kommunizieren und durchsetzen. Haut mich meine Vierjährige, stehe ich auf und gehe außer Reichweite. Aber dann kommt es eben auch darauf an, wie wir unsere eigenen Grenzen kommunizieren. Denn wenn wir jetzt zurückschreien, drohen, gar körperliche Gewalt ausüben, dann lernen Kinder vor allem: Die Stärkeren dürfen das.
Wir als Erwachsene sollten aber der Ruhepol sein. Und das können wir, indem wir uns selbst schützen, aber eben auch ganz deutlich kommunizieren: „Stopp! Ich will nicht, das du mich haust!“ – und jetzt kommt der wichtigere Teil: „Aber ich sehe, dass du gerade echt sauer bist! Hat es dich geärgert, dass…?“ Auf Fragen wie „Warum machst du das?“ werden wir nicht unbedingt eine Antwort bekommen, dazu stecken Kinder auch meist zu tief in ihrer Wut fest. Aber wenn wir die Situation ansprechen, um die es geht, werden Kinder oft in der Lage sein, „ja“ zu sagen. Eine emotionsgeladene Sprache kommt – wie beim Wutanfall der „Trotzkinder“ auch hier in der Wut besser beim Gehirn an.
Im nächsten Artikel wird es um Kommunikation gehen – primär für Erwachsene, aber ich werde beschreiben, wie wir versuchen, auch unseren älteren Kindern schon konkret ein paar Strategien zu zeigen.
Quellen
- Juul, Jesper: Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist
- Rogge, Jan-Uwe: Kinder dürfen aggressiv sein
- Prehn, Annette: Hirnzellen lieben blinde Kuh. Was die Hirnforschung über starke Kinder weiß.
- Grün, Arno: Hass in der Seele. Verstehen, was uns böse macht
- Hüther, Gerald: Jedes Kind ist hoch begabt
- Karp, Harvey: Das glücklichste Kleinkind der Welt
- Elliot, Elise: Was geht da drinnen vor
- Mischel, Walter: Das Marshmallow Experiment
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